Anne(tte) Beaumanoir (30. Oktober 1923 – 4. März 2022) (1-4), eine französische Neurologin, klinische Neurophysiologin und Epileptologin, ist in ihrem neunundneunzigsten Lebensjahr gestorben. Sie war Ehrenmitglied der Epilepsie-Liga und Trägerin der Tissot-Medaille.
Anne Beaumanoir, genannt Annette, wurde in dem kleinen Ort Le Guildo, Notre-Dame-du-Guildo [heute Saint-Cast-le-Guildo] im Département Côtes-d’Armor geboren. Nach dem Spanischen Bürgerkrieg engagierte sie sich zusammen mit ihrer Mutter in einem Solidaritätskomitee zur Unterstützung von Spaniern, die vor den Faschisten Francos nach Frankreich geflohen waren.
Seit ihrem 18. Lebensjahr war sie aktives Mitglied der französischen Résistance gegen die Besetzung durch die nationalsozialistische deutsche Armee im Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 1942 wurde sie Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs und ging in den Untergrund. Im Jahr 1944 warnte sie jüdische Familien in Paris vor Durchsuchungen und versteckte Kinder. Deshalb wurde sie später zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt und erhielt – zusammen mit ihren ebenfalls antifaschistischen Eltern – den Ehrentitel Gerechte unter den Völkern von der israelischen internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem für ihre Unterstützung der Juden in der Bretagne während des Zweiten Weltkriegs.
Teil der «Gastaut-Gruppe»
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahm sie ihr Medizinstudium an der Universität Aix-Marseille wieder auf und schloss es 1954 mit einer preisgekrönten Promotion ab («Contribution à l’Étude Expérimentale de l’Épilepsie partielle» [10]). Nach ihrer Dissertation war Anne mit Yvette Gastaut, Micheline Vigouroux, Jean Regis, Robert Naquet und vielen anderen, die nach Marseille kamen, um EEG zu lernen, Teil der „Gastaut-Gruppe“ in Marseille.
Diese publizierte eine Reihe wichtiger Beiträge zur Neurophysiologie und Epilepsie und definierte wichtige menschliche EEG-Muster wie Lambda-Wellen, Mu-Rhythmus, posteriorer Theta-Rhythmus und rolandische Spike, die von der International Federation of EEG and Clinical Neurophysiology anerkannt wurden. Darüber etablierte die Gruppe mehrere Methoden zur Aktivierung abnormer EEG-Entladungen, darunter Photostimulation und Photopentylentetrazol-Aktivierung.
Sie absolvierte eine Ausbildung in Neurologie und klinischer Neurophysiologie in Marseille und heiratete Joseph («Jo») Roger (1918 – 2012), mit dem sie drei Kinder hatte. Beide waren Mitglieder der Kommunistischen Partei Frankreichs, traten aber 1955 wegen abweichender Positionen aus.
Über Tunesien und Algerien in die Schweiz
Mitte der 1950er Jahre drohte der Algerienkrieg das koloniale Frankreich zu spalten. Anne stellte sich auf die Seite der algerischen Nationalen Befreiungsfront und überzeugte auch ihren Mann. Beide begaben sich in die Illegalität, sie wurden verraten, aber nur Anne wurde 1959 verhaftet. Obwohl sie mit der gemeinsamen Tochter schwanger war, wurde sie zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, entzog sich aber der Strafe und floh über Italien nach Tunesien.
Nach dem Ende des algerischen Unabhängigkeitskrieges 1962 gehörte sie zum Regierungsteam von Ahmed Ben Bella (1916-2012), dem ersten algerischen Präsidenten, und setzte sich für den Aufbau eines fortschrittlichen Gesundheitswesens ein. Nach dem Putsch von Houari Boumedienne (1927 – 1978) im Jahr 1965 entging sie nur knapp der Verhaftung und floh erneut.
Da die Amnestie ihrer Gefängnisstrafe in Frankreich noch lange auf sich warten ließ, ging Anne in die benachbarte Schweiz, wo sie ab 1968 Leiterin der Abteilung für klinische Neurophysiologie und Epileptologie an der Universität Genf war. Unter anderem war sie die erste, die in der Schweiz eine Video-EEG-Telemetrie einführte.
1972 schrieb sie ihre Habilitationsarbeit und war von 1975-90 Professorin für klinische Neurophysiologie und Epileptologie an den Abteilungen für Neurologie und Neurochirurgie der Universität Genf. Sie war Autorin mehrere Arbeiten über Neurophysiologie und Epilepsie: einige EEG-Aspekte bei zerebrovaskulären Erkrankungen, einige epileptische Syndrome, insbesondere okzipitale Epilepsien. 1988 wurde ihr Jubiläum an der Universität Genf mit einem Symposium und Teilnehmern aus der ganzen Welt gefeiert, die über Reflexepilepsien diskutierten.
Nach ihrer Pensionierung war sie von 1992 bis 2002 Mitglied des wissenschaftlichen Komitees der Mariani-Stiftung in Mailand. Bis vor einigen Jahren engagierte sie sich mit Vorträgen an Konferenzen, Seminaren und Aufklärungsveranstaltungen, insbesondere in Schulen, gegen Nationalismus, Rassismus und religiösen Fanatismus.
Vergleiche mit Mata Hari und Marie Curie
Die Schweizerische Liga gegen Epilepsie (seit 2016: Schweizerische Epilepsie-Liga) ernannte sie 2010 zum Ehrenmitglied und verlieh ihr 2021 die Tissot-Medaille. Sie war (Mit-) Autorin zahlreicher Artikel (Auswahl: 5-9) und (Mit-) Autorin oder (Mit-) Herausgeberin vieler Bücher (10-23) u.a. mit Fred Andermann (1930 – 2019), Henri Gastaut (1915 – 1995), Robert Naquet (1923 – 2005) und ihrem ehemaligen Ehemann Jo Roger, darunter autobiografische Berichte auch über ihr politisches Engagement (22, 23).
Ihre letzten beiden Lebensjahre waren von den Folgen eines Schlaganfalls geprägt. 2019 wurde Anne in einem französischen Fernsehbericht über sie (24) als eine Mischung aus der niederländischen exotischen Tänzerin und Kurtisane Mata Hari, der polnisch-französischen Physikerin und Chemikerin Marie Curie und der französischen Geschichtslehrerin und Mitglied der französischen Résistance während des Zweiten Weltkriegs als Lucie Aubrac oder Lucie Samuel beschrieben.
Anne Beaumanoir war eine erstaunliche, grossartige Frau. Sie hatte angesichts von Widrigkeiten eine unglaubliche Tapferkeit, sie wusste, wie man eine gute EEG-Ausbildung mit Strenge und Freundlichkeit bewerkstelligt, sie konnte nicht mit Mittelmässigkeit umgehen und sie hatte die Klugheit, die Chancen jeder Situation zu nutzen. Sie wurde von allen ihren Schülern bewundert. Außerdem war Anne eine sehr elegante und hübsche Frau, ihre blauen Augen spiegelten die Tiefe ihrer Seele wider, sie war einfach eine «Grande Dame»! Am 5. März ist sie in Quimper in der Bretagne von uns gegangen, aber wir werden sie nicht vergessen.
Unser Beileid gilt ihrer Familie.
1) https://fr.wikipedia.org/wiki/Anne_Beaumanoir
2) https://de.wikipedia.org/wiki/Anne_Beaumanoir
3) http://www.ajpn.org/juste-Anne-Beaumanoir-184.html
4) Weber A. Annette, ein Heldinnen-Epos. Berlin, Matthes & Seitz 2020; französische Ausgabe: Weber A. Annette, une épopée. Paris, Éditions du Seiul 2020
5) Beaumanoir A, Martin F. Treatment of generalized epilepsy with acrisuxine. Confinia Neurol (Basel) 1969; 31: 198–206
6) Beaumanoir A, Ballis T, Varfis G, Ansari K. Benign epilepsy of childhood with Rolandic spikes. A clinical, electroencephalographic, and telencephalographic study. Epilepsia 1974; 15: 301–315
7) Beaumanoir A. Infantile epilepsy with occipital focus and good prognosis. Eur Neurol 1983; 22: 43–52
8) Thomas P, Beaumanoir A, Genton P et al. ʻDe novo’ absence status. Report of 11 cases. Neurology 1992; 42: 104–110
9) Ferrie CD, Beaumanoir A, Guerrini R et al. Early-onset benign occipital seizure susceptibility syndrome. Epilepsia 1997; 38: 285–293
10) Roger (Beaumanoir) A. Contribution à l’Étude Expérimentale de l’Épilepsie Partielle (Thèse, Marseille 1954). Paris, Masson 1955
11) Beaumanoir A. Les Épilepsies Infantiles. Problèmes de Diagnostic et de Traitement. Bâle (Basel), Editiones Roche 1976 (19802)
12) Beaumanoir A. Explorations Fonctionnelles Électrophysiologiques du Système Nerveux, Genève, Editions Médicine et Hygiene (MH) 1985
13) Beaumanoir A, Gastaut H, Naquet R, eds. Reflex Seizures and Reflex Epilepsies. International Symposium on Reflex Seizures and Reflex Epilepsies, Genève, Juin 1988. Genève, Editions Médicine et Hygiene (MH) 1989
14) Andermann F, Beaumanoir A, Mira L et al, eds. Occipital Seizures and Epilepsies in Children. Colloquium of the Pierfranco e Luisa Mariano Foundation. Mariana Foundation Pediatric Neurology Series: 1. London – Paris – Rome, J. Libbey 1993
15) Beaumanoir A, Bureau M, Deonna T et al, eds. Continuous Spikes and Waves during Slow Sleep. Electrical Status Epilepticus during Slow Sleep. Acquired Epileptic Aphasia and Related Conditions (Mariani Foundation Paediatric Neurology: 3). London – Paris – Rome, J. Libbey 1995
16) Beaumanoir A, Andermann F, Avanzini G, Mira L, eds. Falls in Epileptic and Non-epileptic Seizures During Childhood (Mariani Foundation Paediatric Neurology: 6). London – Paris – Rome – Sydney, J. Libbey 1997
17) Zifkin BG, Andermann F, Beaumanoir A, Rowan AJ, eds. Reflex Epilepsies and Reflex Seizures (Advances in Neurology, Vol 75). Philadelphia – New York, Lippincott – Raven 1998
18) Avanzini G, Beaumanoir A, Mira L, eds. Limbic Seizures in Children (Mariani Foundation Paediatric Neurology: 8). Eastleigh, J. Libbey 2001
19) Beaumanoir A, Andermann F, Chauvel P et al, eds. Frontal Lobe Seizures and Epilepsies in Children (Mariani Foundation Paediatric Neurology: 11). Montrouge, J. Libbey Eurotext 2003
20) Beaumanoir A, con la collaborazione di Costa P, Grioni D, Manfredi L et al. L’Anamnesi delle Crisi Epilettiche del Bambino (Fondazione Pierfranco e Luisa Mariani neurologia infantile ONLUS). Milano, F. Angeli 2004
21) Beaumanoir A, Roger J. Une histoire de l’épileptologie francophone. Montrouge – Esher, J. Libbey Eurotext 2007
22) Beaumanoir A. Le feu de la mémoire: La Résistance, le communisme et l’Algérie, 1940-1965. Saint Denis, Editions Bouchène 2009; deutsche Übersetzung: Beaumanoir A. Wir wollten das Leben ändern. Band 1. Leben für Gerechtigkeit. Erinnerungen 1923 bis 1956. Amélie-les-Bains – Hamburg, Edition Contra-Bass 2019 (reviewed by: Krämer G. Z Epileptol 2021; 37: 234–236)
23) Beaumanoir A. Wir wollten das Leben ändern. Band 2: Kampf für Freiheit. Algerien 1954 – 1965. Amélie-les-Bains – Hamburg, Edition Contra-Bass 2020
Günter Krämer, Zürich, und Pierre Jallon, Ho Chi Minh City, Vietnam
Foto: Dr. Stanley Zagury, Lausanne, ca. 2015 in Biarritz